Lesestoff: Buchbesprechung

„Dynamische Urteilsbildung. Urteilen und handeln mit der Lemniskate. Ein Handbuch für die Praxis“

Susanne Bächtold, Katja Supersaxo (Hrsg.)
Haupt Verlag: Bern 2005, 386 Seiten, 45,00 €

Rezension von Christine Scharlau in in TYPOS - Zeitschrift für Typologie und Persönlichkeitsentwicklung 1/ Februar 2008

Um Entwicklungsprozesse und problemlösende Gespräche zu moderieren, sind Strukturmodelle probate methodische Hilfsmittel. Verschiedene lineare Modelle und Vier-Felder-Tafeln sind unter Organisationsberatern und Supervisoren verbreitet. Sie alle dienen dazu, die komplexe, chaotische Vielfalt der jeweiligen Realitäten zu ordnen. Als Metamodelle bieten sie ein sicherndes Gerüst für Berater und erleichtern das Verhandeln der Phänomene, indem sich alle Beteiligten darauf beziehen können. Sie helfen dabei, gemeinsame Sichtweisen anzubahnen und gemeinsame Ziele weiter zu entwickeln.

Das Modell der Dynamischen Urteilsbildung wird im hier besprochenen Buch erstmals in deutscher Sprache ausgebreitet und von 14 AutorInnen reflektiert: Es ist interessant, insofern es eine Beratungshaltung impliziert, die hier aus verschiedenen Blickwinkeln erläutert wird, und als Werkzeug für Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse, Teamsitzungen, Konfliktklärungen und intrapsychische Vorgänge. Diesen dient das Modell nicht nur zum Strukturieren, sein Anspruch ist darüber hinaus, zu qualitativ hochwertigen Entscheidungen zu kommen, die möglichst umsetzbar und nachhaltig sind.

Entwickelt wurde die Dynamische Urteilsbildung zunächst vom Lex Bos (*1925), der, wie auch Friedrich Glasl, dem von Bernhard Lievegoed gegründeten NPI - Institut für Organisationsentwicklung - verbunden war. In den Niederlanden, in der Schweiz und in Skandinavien wird sein Modell etwa seit 1980 in Ausbildungen für Organisationsberatung, Mediation und Supervision gelehrt und überwiegend mündlich tradiert, über die Beratungspraxis vieler Berater breitete es sich aus. Bislang fehlte ein Handbuch zu den Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten, nun liegt es vor.

Das Modell

Lex Bos' Dynamische Urteilsbildung bietet sich als Interventionsmodell für Beratungen an, um Klientensysteme zu umsetzungsfähigen Entscheidungen anzuleiten und dabei möglichst viele ihre Kompetenzen zu nutzen. Gängige Phasenmodelle legen in der Regel ein lineares Vorgehen nahe, in der Art von 1. Analyse - 2. Bewertung - 3. Beschluß. Im Unterschied dazu berücksichtig dieses differenziertere Modell, daß gut begründete Entscheidungen eher in zirkulären oder iterativen Suchprozessen gewonnen werden. Es handelt sich um ein prozeßorientiertes Vorgehen, welches ein angemessenes Umgehen mit vielschichtigen Situationen fördern kann. Seine vier Bereiche oder Felder kommen auch in anderen Strukturmodellen ähnlich vor:

  • das Wahrnehmen der Daten und Fakten,
  • die konzeptbildenden Begriffe, also das, was die Beteiligten dazu denken,
  • die angestrebten Ziele, sowie die damit verbundenen Werte und
  • die Mittel und Wege, die einzuschlagen sind.

Das Besondere dieses Modells ist, diese Felder je nach Prozeßverlauf mehrfach zu durchlaufen. Damit können aus dem Diskurs erwachsende Erkenntnisse einbezogen werden, die Problembeschreibungen können sich verändern, weitere, zunächst unwichtiger erscheinende Aspekte werden aktiviert, anders gesehen und gewichtet. Als Symbol des Modells hat Lex Bos die Figur der liegenden Acht, die Lemniskate, gewählt, die eine fortlaufende Bewegung durch alle Felder ohne unterstellte Reihenfolgen andeuten soll.

Der Prozeß beginnt mit einer Ausgangsfrage einschließlich ihrer emotionalen Qualitäten. Sein Ende, immer als vorläufiges Ende gedacht, mündet häufig in neue Fragen. Somit ist das aktuelle Anliegen der Beteiligten, die Stelle, wo der Schuh drückt, wo Gefühle sich oft unreflektiert äußern, das jeweilige Zentrum des Modells, der Schnittpunkt der Lemniskate. Außerdem ist der jeweilige Kontext unverzichtbare Voraussetzung und Bestandteil dieses Referenzmodells. So wird die Situationsgebundenheit der anstehenden Umsetzungsschritte bewußt gehalten.

Susanne Bächtold, Katja Supersaxo; Rezension Christine Scharlau
Lemniskate

Die Frage "Wie können wir als Team in dieser schwierigen Situation weiter zusammenarbeiten?" wäre ein Beispiel für solch ein dringendes Thema. Hiervon ausgehend sorgt die Moderationsperson dafür, daß im Gespräch alle Dimensionen des Modells in nicht festgelegter Reihenfolge durchlaufen werden, beleuchtet aus den unterschiedlichen Blickwinkeln aller Beteiligten:

  • der Blick auf Vergangenes, repräsentiert in der linken Schleife der Lemniskate, um Einsicht in Gegebenheiten und Fakten zu gewinnen, welche die aktuelle Situation prägen: Was hat zur derzeitigen Problemsituation beigetragen?
  • der Blick auf Zukünftiges, repräsentiert in der rechten Schleife: Was soll im Einklang mit bestehenden Arbeitsaufträgen und gegebenen Ressourcen erreicht werden?

Innerhalb dieser beider Richtungen wird ein Vorgehen nach dem Modell der Dynamischen Urteilsbildung wiederum zwischen jeweils zwei Polen differenzieren:

  • Bei der Analyse des Vergangenen pendelt es zwischen
    • den Daten und Fakten, die Einfluss nehmen, und
    • Interpretationen, Konzepten, Phantasien, die damit evoziert wurden.
  • Auf der Lösungsseite werden abwechselnd aktiviert
    • die Mittel und Wege, die zukünftig genutzt werden könnten und
    • die Ziele, die erreicht werden sollen oder festzulegen sind.

Das – vorläufige – Resultat wird von den Beteiligten rational und emotional bewertet; im Bewusstsein, daß der Entscheidungsprozeß mit Durchlaufen weiterer Schleifen weitere Facetten berücksichtigen und zu tragfähigeren Ergebnissen führen kann.

Nutzen

Auch andere Modelle fördern durch das Trennen und Aktivieren verschiedener Fragefelder eine Verlangsamung der Entscheidungs- oder Verständigungsprozesse. Auch sie können dazu beitragen, zwischen den Impulsen, die nach Lösungen streben, immer wieder die Fakten und deren Bedeutungsgebungen (G. Schmidt) durch die Beteiligten zu berücksichtigen und eine häufige Quelle des Misslingens zu verringern: zu forsch Lösungen anzusteuern.

Darüber hinaus hilft das Modell der Dynamischen Urteilsbildung, der Versuchung zu widerstehen, zu schnell Problembeschreibungen des Klientensystems zu akzeptieren, zu geradlinig die vermeintliche Zielgerade anzusteuern. Die durch das Modell "erlaubten" Vor- und Zurückbewegungen, die Abgeschlossenheit nicht suggerieren, bieten gleichwohl Orientierung. Die Dynamische Urteilsbildung bezieht den Fragenden, den Beobachter des Systems, in das Modell mit ein und geht davon aus, daß die Anfangsfragen sich verändern. Im Wechsel der Perspektiven bietet das Modell Struktur in der Bewegung, macht "wacher für unerwartete Wendungen" (Martin van der Broek, S. 358) und erleichtert es, die emotionalen Energien, die im Spiel sind, undramatisch zu berücksichtigen. Durch Fragen, die auf Unterschiede im Erleben der Beteiligten zielen, können emotionale Bezüge und rationale Argumente verbunden werden. Dadurch gewinnen Entscheidungen an Umsetzungsfähigkeit. Dies zu berücksichtigen ist besonders im wirtschaftlichen Kontext noch nicht weitverbreitet, verspricht jedoch zusätzlichen Nutzen: Durch zirkuläre Problemlösungsprozesse kann Prozeßorientierung mit Ergebnisorientierung verbunden werden. (Auch anderenorts wird deutlich, welcher Gewinn durch das Berücksichtigen von intuitivem und kognitivem Wissen entsteht, siehe zum Beispiel die Aufmerksamkeit, die etwa den Publikationen von Joachim Bauer oder Gerald Hüther unter Managern momentan zuteil wird).

Alles in allem ist das Modell angemessen komplex, um Situationen in Organisationen handhabbar zu reduzieren. Es bietet für Berater und Klienten eine transparenzfördernde Orientierungsstruktur in unsicherem Gelände, im Offenhalten des Prozessen für zunächst noch nicht empfundene Fragen.

Prämissen

So wie Lex Bos' Modell dargestellt wird, verbleibt die inhaltliche Verantwortung bei den Klienten, die beteiligten Personen werden als Experten ihrer Welt respektiert. Die Fragehaltung ist ressourcenorientiert und dialogisch. Insofern ist das Modell der Dynamischen Urteilsbildung mit systemischem Vorgehen in der Beratung kompatibel, auch wenn man Lex Bos' an Rudolf Steiner orientieren menschenkundliche Implikationen nicht teilt.

Das Handbuch

Die Beiträge des Handbuches bieten Organisationsberatern und Supervisoren vielfältige Denkanregungen, ihr eigenes Beratungshandeln unter erkenntnis-, lern-, entwicklungs-, und organisationstheoretischen sowie ethischen Perspektiven zu reflektieren. Praxisbeispiele beziehen sich auf Beratungen bei unterschiedlichen Entscheidungsprozessen in verschiedenen Ländern: bei einzelnen Personen im Konflikt, der Fusion zweier Banken, in einem Stellenvermittlungsbüro, bei der Konfliktlösung an einer Universität und bei Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Die Dynamische Urteilsbildung wurde eingesetzt in den Formaten (Lehr-)Supervision, Coaching, Mediation, Organisationsentwicklung, Managementtraining und Selbstmanagement.

Je nach Interesse und Fragestellung werden Leser und Leserinnen Unterschiedliches passend und weiterführend finden. Auch wenn die dem Modell eigenen Begriffe, die der Anthrosophie Rudolf Steiners entstammen, seiner Anschlußfähigkeit in anderen Communities nicht gerade förderlich sein dürften, und auch wenn der Titel eher sperrig klingt und bislang erst Eingeweihten verständlich ist: Die 17 Artikel des Handbuches stellen anregende Bezüge her und bieten nicht nur denjenigen, denen die Dynamische Urteilsbildung bereits vertraut ist, vielfältige praxeologische Differenzierungen und konzeptuelle Denkanstösse gegen den Strich.

Christine Scharlau, Juli 2007

Beim Haupt-Verlag finden Sie detaillierte Angaben zum Buch, eine Ansicht des Buches, eine Inhaltsbeschreibung und die Bestellmöglichkeit.

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